„Familie ist alles“ – oder etwa nicht?

„Nimm’s doch nicht so schwer, das ist schließlich deine Familie.“ In jeder Familie gibt es hin und wieder Streit oder Diskussionen, doch trotzdem sind sich die meisten Menschen sicher, dass ihre Familie auch ihr Zuhause ist. Wenn negative Gefühle oder ständige Konflikte im Zusammentreffen mit Ihrer Familie jedoch an der Tagesordnung sind und Sie sich nach jeder gemeinsamen Interaktion negativ belastet fühlen, kann im schlechtesten Fall womöglich ein sogenanntes toxisches Familienverhältnis bestehen. „Familie bleibt Familie“ oder „Blut ist dicker als Wasser“ suggerieren uns, dass die Familie immer das Wichtigste für uns sein sollte. Manchmal kann es jedoch angebracht sein, die Beziehungen zu hinterfragen – selbst jene zu den eigenen Eltern.

In toxischen Familien kommt es oft vor, dass die Bindung zwischen Eltern und Kindern instabil ist, Kinder emotionaler Misshandlung ausgesetzt sind und das Leben in der Familie zum Minenfeld wird. Doch toxische Familienverhältnisse können genauso gut zwischen Tante und Nichte, Vater und Tochter, oder zwischen Großmutter und Schwiegertochter entstehen.

Welche Arten von emotionaler Misshandlung können in der Familie auftreten?

Meist geht die emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung dabei von einem höheren Familienmitglied aus, da dafür oft ein gewisses Machtgefälle vorausgesetzt ist. Von physischer Gewalt soll hier nicht geredet werden – in diesem Fall des Missbrauchs ist unverzüglich professionelle Hilfe aufzusuchen. Doch wenn beispielsweise die Tante sich auf jeder Familienfeier zur Aufgabe macht, Sie zu verletzen oder herunterzureden, sollten Sie beginnen zu hinterfragen, ob der Kontakt mit dieser Person Ihnen wirklich guttut.

Aber woran erkennen Sie wirklich, ob Sie toxische Familienmitglieder haben oder Ihre Tante Sie vielleicht nur piesacken will?

  1. Ihre Individualität und Ihre Grenzen werden nicht respektiert: Ihnen wird weder Freiraum noch ausreichend Privatsphäre gelassen. Ihre Eltern tendieren dazu, alles über Ihr Leben wissen zu wollen und dringen grenzüberschreitend in Ihre persönliche Welt ein. Selbst zu intimen Details wollen sie Zugang haben und erlangen diese sogar über unethische Wege wie beispielsweise durch das Lesen Ihres Tagebuchs. Meist ist dies auch durch ein übermäßiges Verlangen nach Kontrolle über Ihr Leben gekennzeichnet.
  2. Abwertung, Kritik und Enttäuschung: Toxische Familienmitglieder nehmen fast alles zum Anlass, um Sie zu kritisieren. Alte Geschichten und Fehler von Ihnen werden wieder zur Sprache gebracht um Sie erneut abzuwerten und zu belehren. Es kommt auch vor, dass Sie dabei mit anderen verglichen werden: „Warum bist du bloß nicht so schlau wie deine ältere Schwester?“. Ihnen wird das Gefühl gegeben, Sie seien nie gut genug und nur eine Enttäuschung.
  3. Abladung von emotionalem Ballast: Dies trifft insbesondere im Eltern-Kind-Verhältnis zu, wobei die Eltern all Ihre emotionalen Belastungen bei Ihren Kindern abladen. Das geht so weit, dass Ihre Mutter Ihnen alle Details von dem Streit mit Ihrem Vater erzählt und Sie um Rat fragt – auch, wenn Sie zu dem Zeitpunkt nur ein Kind sind (wenn beide Parteien erwachsen sind, ist die Situation natürlich etwas anders). Insbesondere Scheidungskinder stehen dann oft als Streitpunkt zwischen den Eltern. Dies lädt enorme Verantwortung auf das Kind und führt zu dem Gefühl, es müsse sich zwischen Mama und Papa entscheiden – entscheidet es sich falsch, ist es schuld an der Trauer der jeweils anderen Person.
  4. Fehlende Flexibilität: Wenn ein Familienmitglied beispielsweise beginnt, sich oder sein Leben zu verändern, können toxische Familien damit meist schlecht umgehen. Jegliche Veränderungen werden dramatisiert und nicht selten versuchen andere Familienmitglieder, Sie an Ihrer Selbstverwirklichung zu hindern. So sollen Sie sogar mithilfe von Manipulation dazu gebracht werden, Ihren bisherigen Platz in der Familie nicht zu verlassen.

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Wie kann ich mit belastenden Familienbeziehungen umgehen und welche Schritte zur Kontaktabgrenzung sind ratsam?

Wenn Mitglieder Ihrer Familie vielleicht diese Eigenschaften zeigen, Sie jedoch kaum Kontakt haben und nicht darunter leiden, müssen Sie natürlich nicht auf einmal anfangen, das Gespräch zu suchen und sich aktiv abzugrenzen. Aber wenn Sie davon betroffen sind und Leidensdruck verspüren oder merken, dass Sie sich jedes Mal nach einem gemeinsamen Gespräch schlecht oder ausgelaugt fühlen, können Sie die Beziehung durchaus hinterfragen. Sie können anfangs versuchen, das Gespräch zu suchen. Wenn dies nicht funktioniert, sollten Sie die Möglichkeit einer Kontaktbeschränkung in Betracht ziehen – graduell bis hin zu vollständigem Kontaktabbruch. Es ist keine Schande, die Menschen, mit denen man sich umgibt, sorgfältig auszuwählen. Auch wenn es Familie ist, unterliegen Sie keiner Verpflichtung. Selbst den eigenen Eltern schulden Sie nichts – Ihre Eltern haben sich dazu entschieden, Sie in die Welt zu setzen. Es geschieht sehr häufig, dass von Seiten der anderen Familienmitglieder Druck aufgebaut wird, sich „doch wieder zu versöhnen“ oder „mehr Zeit miteinander zu verbringen“, aber das müssen Sie nicht. Würden Sie mit einem Schulfreund befreundet bleiben, wenn dieser bei jedem Treffen gegen Sie stichelt? Warum sollten für Familienmitglieder also andere Regeln gelten? Trauen Sie sich, für Ihre Grenzen einzustehen – Ihrer Gesundheit zum Wohle.

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